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„Alles hat nur funktioniert, weil viele mitgemacht haben.“

30.1.2021

Auch unter Corona-Bedingungen musste nicht auf das Gedenken verzichtet werden: Mit großen Abstand wurde der Videogottesdienst in der Johanneskirche aufgezeichnet, mit (von links) Hella Goldbach, Burkhard Waimann, Reinhard Derdak, Christina Schaumann, Michael Siol und Dirk Rudzio (Foto: Görlitzer)
Auch unter Corona-Bedingungen musste nicht auf das Gedenken verzichtet werden: Mit großen Abstand wurde der Videogottesdienst in der Johanneskirche aufgezeichnet, mit (von links) Hella Goldbach, Burkhard Waimann, Reinhard Derdak, Christina Schaumann, Michael Siol und Dirk Rudzio (Foto: Görlitzer)

LÜDENSCHEID + „Wir sind gefragt“: Mit diesen Worten hat Pfarrer Michael Siol seine Predigt zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar überschrieben. Anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die sowjetische Armee 1945 hat die evangelische Johanneskirchengemeinde in Lüdenscheid einen besonderen Videogottesdienst aufgezeichnet, der ab dem 27. Januar online über die Internetseite der Gemeinde johaki.de angesehen werden konnte.

 

Neben Pfarrer Michael Siol haben Hella Goldbach, Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lüdenscheid, die Musiker Reinhard Derdak, Christine Schaumann und Burkhard Waimann, unter anderem mit Klezmer-Musik, sowie Presbyterin Monika Blach den Gottesdienst gestaltet.

 

Hella Goldbach schildert in ihrer Ansprache die Geschichte der zehnjährigen Zwillinge Eva und Miriam, die in Auschwitz die menschenverachtenden Versuche des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengele überlebten. Eva, die mit Krankheiten infiziert wurde, weil Mengele nach der Ermordung der Mädchen die Organe von kranken und gesunden Zwillingen vergleichen wollte, gelang es „mit dem Mut der Verzweiflung“, die Ärzte auszutricksen, sagte Hella Goldbach. „Mit ungeheuerlicher Willenskraft überlebt sie die Injektionen, die tödlich sein sollten. Bis heute weiß sie nicht, welche Krankheiten sie enthielten.“

Dirk Rudzio zeichnete den Gottesdienst – hier die Ansprache von Hella Goldbach, Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit – auf Video auf (Foto: Görlitzer)
Dirk Rudzio zeichnete den Gottesdienst – hier die Ansprache von Hella Goldbach, Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit – auf Video auf (Foto: Görlitzer)

In seiner Predigt griff Michael Siol diese Überlebensgeschichte auf. „Und wieder stehen wir hier am 27. Januar und merken, dass unsere Worte nicht ausreichen, um das, was wir angesichts des Verbrechens empfinden, in Worte zu fassen.“ Über Auschwitz sagte Siol: „Nach unserem Ermessen muss es wirklich die Hölle gewesen sein.“ Alle Überlebenden hätten, wie Eva, nur durch eine übermenschliche Willenskraft weiter leben können. Aber das allein reiche nicht – „etwas haben wir selbst in der Hand. Das meiste aber nicht.“ Der Pfarrer ging auf die Studien der jüdischen Denkerin Hanna Arendt ein, die sich sowohl mit den Biografien von Opfern als auch von Tätern befasst hat. Sie habe erkannt, wie die Nazis die deutsche Sprache zum Instrument des Regimes gemacht haben, indem sie die zur Verharmlosung der Verbrechen benutzten. „Gerade die Evangelische Kirche, die den Auftrag hat, das Wort klar und deutlich zu sprechen und zu verbreiten, war entwaffnet und hat dann im Blick auf die Judenverfolgung und -ermordung versagt.“ Für Siol ist das ein „mahnendes Beispiel des Versagens, wie es uns heute wieder unterlaufen kann, wenn wir nicht gewaltig aufpassen, wo systematische Ausgrenzung ihren Anfang im Sprachgebrauch nimmt.“ Jeder sei in der Verantwortung, dass so etwas nicht wieder vorkomme. „Alles hat nur funktioniert, weil viele mitgemacht haben.“ Deshalb seien alle Menschen gefragt. „Denn auch das Höhere ist ohnmächtig ohne die, die mitmachen, ohne die, die wegschauen, ohne die, die zuarbeiten. Das gilt für das Böse, das gilt für das Gute.“

 

Es handelte sich um den inzwischen dritten Gottesdienst, den Michael Siol anlässlich des Holocaust-Gedenktag in der Johanneskirche gestaltet hat. Während der Gottesdienst im Vorfeld auf Video aufgezeichnet worden war, legte Hella Goldbach wie in jedem Jahr am 27. Januar gemeinsam mit Bürgermeister Sebastian Wagemeyer Blumen an der Gedenktafel an der Lüdenscheider Stadtbücherei nieder. Dort befand sich bis 1938 der Betsaal der kleinen jüdischen Gemeinde Lüdenscheids. Die sonst übliche Gedenkveranstaltung mit zahlreichen Teilnehmern konnte coronabedingt nicht stattfinden, ganz auf die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit verzichten, wollten weder die Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit noch der Bürgermeister. ©BG

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