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„Wehret den Anfängen“ – warum das Engagement von Initiativen wie den „Ge-Denk-Zellen Lüdenscheid“ immer wichtiger wird
16.1.2025
Von Iris Kannenberg
LÜDENSCHEID + Nationalsozialismus, Feindbilder, Konformismus, Juden- und Ausländerfeindlichkeit beeinflussten das Denken der Mehrheit in Deutschland vor 91 Jahren so, dass sie Adolf Hitler wählte. Die „Ge-Denk-Zellen“ sind die Stelle in Lüdenscheid, die darüber informiert und dafür wirbt, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Die Initiative „Ge-Denk-Zellen“ wurde im Jahr 2005 gegründet. Die treibende Kraft der sechzig Mitglieder war Matthias Wagner, ehemaliger Lehrer für Deutsch und Geschichte am Bergstadt-Gymnasium, der 1978 von Köln nach Lüdenscheid zog. Der Liebe wegen, wie er sagt.
Dieser Gründung gingen mehrere tausend ehrenamtliche Arbeitsstunden voraus. Seine umfangreichen Recherchen, viele Aktionen „wider das Vergessen der nationalsozialistischen Vergangenheit Lüdenscheids“ und zwei Bücher, die Matthias Wagner zum Thema veröffentlichte („Lüdenscheider Jüdinnen und Juden“ und „Arbeit macht frei – Zwangsarbeit in Lüdenscheid“) sowie die Erarbeitung eines Gedenkbuches für die NS-Opfer Lüdenscheids, führten schließlich 2005 zur Stellung eines Antrags, die ehemaligen Polizeizellen im Alten Rathaus für eine Gedenkstätte zu nutzen. Dieser Antrag wurde 2011 (sechs Jahre später) vom Stadtrat abgelehnt. Er erlaubte jedoch dem mittlerweile gegründeten „Ge-Denk-Zellen-Verein“, die Stätte selbst einzurichten, wenn vorher 17.000 Euro an die Stadt gezahlt würden, die noch Sicherheitsumbauten für die öffentliche Nutzung vornehmen musste.
Das Geld kam aus den vielen Spenden der Lüdenscheider BürgerInnen zusammen, die es durchaus für wichtig hielten, die Geschichte Lüdenscheids aufzuarbeiten. Die Gedenkstätte konnte 2012 – 70 Jahre nach der Deportation von jüdischen Bürgern aus Lüdenscheid am 12.4.1942 – endlich eröffnet werden. Seitdem besuchen – ausgenommen in der Corona-Zeit – jedes Jahr ca. 1000 Menschen die „Ge-Denk-Zellen“. Darunter viele Schulklassen und Vereine, Gewerkschaften, Parteien und kirchliche Gruppen.
Auch heute noch ist Matthias Wagner ein unermüdlicher Mahner, angesichts der Tatsache, dass sich Antisemitismus und rechtes Gedankengut wieder in den Köpfen der Menschen auszubreiten scheint. Zudem unterstützt er die „Stolperstein-Initiative“, die in Meinerzhagen ihren Anfang im MK nahm. Die letzten Stolpersteine wurden erst im September 2024 in Lüdenscheids Oberstadt in einer feierlichen Zeremonie verlegt, bei der Schüler und Schülerinnen Pate standen. Unterstützung bekommt der engagierte Christ Matthias Wagner zudem von den „Freunden Israels Lüdenscheid“, die in den letzten Jahren durch öffentliche Aktionen gegen Antisemitismus auffielen. Oft gemeinsam mit ihm, manchmal auch in Eigeninitiative. Dabei immer friedlich und engagiert.
An diesem Nachmittag traf ich mich mit Herrn Wagner und der Vertreterin der „Freunde Israels“ Rosemarie Dicke, direkt in den „Ge-Denk-Zellen“. Matthias Wagner kam unmittelbar von der „Demonstration gegen rechts“ auf dem Rathausplatz. Rosi Dicke war eine Woche vorher in Israel gewesen, wo sie mit ihrer Gruppe seit einigen Jahren aktiv Holocaustüberlebende unterstützt. Ich saß mit den beiden in einer ehemaligen Gefängniszelle das Alten Rathauses und plötzlich rückte das „Dritte Reich“ sehr nahe. Die Zellen bedrücken. Dicke Wände, niedrige Decken, vergitterte Fenster. Hier wurden Verfolgte gefangen, gedemütigt und deportiert, viele auch bis in den Tod. Sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, erfordert Mut. Meine zwei Interviewpartner bringen ihn offensichtlich auf.
Matthias Wagner bereits seit 1978, Rosi Dicke seit 2014, als sie das erste Mal ganz direkt mit dem Holocaust konfrontiert wurde. Es ließ sie seitdem nicht mehr los.
Sie erzählt: „Der erste wirkliche Kontakt mit diesem Thema fand dadurch statt, dass ich gehört hatte, dass es eine Initiative gibt, die sogenannte „Märsche des Lebens“ in Deutschland veranstaltet, um dessen zu gedenken, was am Ende des Krieges geschehen ist. Damals wurden Gefangene von Konzentrationslagern durch ganz Deutschland getrieben, um in andere Lager gebracht zu werden und sie so vor den Alliierten zu verbergen. Oft schleppten sich die Häftlinge tagelang, ohne Essen und Trinken quer durch Deutschland. Sie waren bereits durch die Lager völlig geschwächt, daher sind sehr viele dabei gestorben. Diese Initiative lädt Überlebende dieser Märsche dazu ein, mit dem Ziel, dass sie zu „Märschen der Versöhnung“ werden Das berührte mich und ich habe nach adäquaten Veranstaltungen im Märkischen Kreis gesucht. 2014 gab es eine solche in Hagen, von einer dortigen Gruppe (Städtepartnerschaft Modein / Hagen) in Zusammenarbeit mit der Hagener Synagoge organisiert. An der habe ich mich dann beteiligt. Und bin dadurch das erste Mal mit Überlebenden in Berührung gekommen. Vorher hatte ich keinen einzigen Juden gekannt, obwohl sie doch Teil meiner eigenen Geschichte sind und in Deutschland immer noch leben. Es war einfach nie ein Thema. Dieser „Marsch des Lebens“ hat mich so aufgerüttelt, dass ich anfing, mich intensiv mit der jüdischen Geschichte, der Diaspora, dem „Dritten Reich“ und dem neugegründeten Staat Israel auseinanderzusetzen. Daraus ist auch die Zusammenarbeit mit Herrn Wagner entstanden und der Wunsch, mich aktiv gegen Antisemitismus einzusetzen.“
Ich frage, warum gerade heutzutage das Erinnern und Mahnen wichtig sei. Matthias Wagner antwortet: „Wir leben auch heute in einer Zeit des Umbruchs. Der Umbruch ist im Moment nicht so gravierend wie zwischen 1929 und 1933 mit der größten Weltwirtschaftskrise, die die Menschheit bis dahin durchgemacht hatte. Aber wir erleben wirklich sehr viele Veränderungen, die das Potential haben, unser Grundverständnis von Demokratie nachhaltig ins Wanken zu bringen. Meiner Meinung nach liegt dies besonders an der fehlenden Kommunikation der Menschen untereinander.
Heutzutage liegt der Focus der Information auf den sogenannten „Sozialen Netzwerken“. Im Bereich „Social Media“ ist der Umgang miteinander ein völlig anderer als in der direkten Kommunikation. Man fängt dort keine persönlichen Diskussionen von Angesicht zu Angesicht an, sondern begegnet sich anonymisiert auf einer oft wenig respektvollen Ebene.
Sitzt man sich hingegen im Freundeskreis gegenüber, überlegt man genauer, was man sagt, ob man den andere verletzt und wirklich riskieren will, ihn zu verlieren. Die Anonymisierung durch die elektronischen Medien halte ich daher für eine gefährliche Angelegenheit. Man geht generell deutlich weniger raus und lässt Freundschaften und persönliche Beziehungen schleifen. Und das ist die eine Todsünde, die der Verbreitung ungeprüfter und unreflektierter Meinungen Tür und Tor öffnet.“
Ich frage Rosi Dicke, ob sie das ähnlich sieht. Sie antwortet: „Ja, auf jeden Fall. Das kann ich nur unterstützen. Gerade deshalb organisieren wir zusammen Veranstaltungen, die direkt in den Städten stattfinden. Bei der letzten Stolpersteinverlegung haben wir im Vorfeld Schulen angesprochen, da wir es für wichtig halten, gerade junge Menschen in die Diskussion über das Entstehen von Hass und Feindbildern mit einzubeziehen. Sich direkt damit zu konfrontieren, führt unserer Meinung nach viel eher zu einer wirklichen Betroffenheit und Nachdenken, als dies den Medien zu überlassen. Dort ist - wie Herr Wagner so treffend sagt - der Abstand zum Geschehen zu groß und wird ausgeblendet. Uns wird es daher zusehends wichtiger, auf die Straße zu gehen und von Mensch zu Mensch zu informieren.“
Ich frage Herrn Wagner, warum er sich für die Schaffung einer Gedenkstätte so stark gemacht hat und heute immer noch so aktiv ist. Er erklärt: „Ich war enttäuscht, dass man sich in Lüdenscheid mit der Stadtgeschichte von 1933 bis 1945 und den in dieser Zeit geschehenen Menschenrechtsverstößen nicht auseinandersetzen wollte, egal ob sich die um jüdische Schicksale drehten oder um die anderer BürgerInnen. Ich nenne da als Beispiel den ganzen fassungslos machenden Bereich der Euthanasie, an der sich die Städte des MK beteiligten. Diese Opfer sollen nicht vergessen werden.
Ich nehme persönlich täglich wahr, dass die Empathie für den anderen schwindet. Mit den „Ge-Denk-Zellen“ und unseren öffentlichen Aktionen versuchen wir daher eine eigene, sehr persönliche Erinnerungskultur zu schaffen. Die Opfer in Lüdenscheid, Meinerzhagen, Halver oder Kierspe, bei denen es um Menschen geht, die manche sogar noch in Erinnerung haben, rücken so viel näher ins Bewusstsein als die furchterregende, nicht vorstellbare Zahl von sechs Millionen getöteten Juden. Einige davon waren unsere Nachbarn. Hier ist direkte Identifizierung eher möglich, Schicksale werden persönlich und berühren das Herz.“
Rosi Dicke ergänzt: „Für diese persönliche Identifizierung sind einige aus unserer Gruppe nach Israel gefahren und unterstützen Überlebende dort jetzt ganz praktisch. Wir versuchen so, Beziehungen und Freundschaften zu den überlebenden Opfern des Nationalsozialismus aufzubauen und zu verstehen, was sie durchgemacht haben. Diese Versöhnungsarbeit ist besonders für die junge Generation auf beiden Seiten wichtig, weil ich glaube, dass wir gerade als Christen nicht nur eine moralische Verpflichtung gegenüber den Folgen unserer Geschichte und den heute lebenden Juden und Jüdinnen haben. Sondern generell eine menschliche Verpflichtung, dass das, was bei uns geschehen ist, in dieser Art und Weise nicht ein zweites Mal geschehen darf. Wir pflegen daher auch intensive Beziehungen und Kontakte zu in Deutschland lebenden jüdischen MitbürgerInnen. Dazu gehört, dass wir ihnen gerade jetzt beistehen und für sie da sind, da sich viele von ihnen zusehends unsicher fühlen. Antisemitismus wird wieder offen auf den Straßen ausgelebt. Jüdische Menschen trauen sich immer weniger, sich zu ihren Wurzeln zu bekennen, da sie Angst haben müssen, dass man ihnen das Leben zur Hölle macht.“
Herr Wagner bejaht: „Das ist wirklich noch ein riesiger Stolperstein. Tatsächlich ein ganzer Brocken, der gerade immer größer wird. Ich kenne eine Reihe Nachfahren von überlebenden jüdischen Mitbürgern, die sich haben taufen lassen, um sich in den christlichen Kirchen zu verstecken. Aus Angst wohlgemerkt. Sie wollen nicht öffentlich als Juden erkannt werden und lehnen jede Erwähnung ihrer Familien als jüdisch ab. Ich halte das für eine Katastrophe, so etwas ist nicht Demokratie, das ist keine offene und schon gar keine fürsorgliche Gesellschaft. Sondern ein Zeichen dafür, dass man heute, im Jahr 2024 immer noch nicht der Wahrheit ins Gesicht schauen und solidarisch sein möchte mit seinen Mitbürgern. Wie kann das sein, in unserer angeblich so aufgeklärten Gesellschaft? Doch nur, wenn man nicht aufgehört hat, Menschen in lebenswert und lebensunwert einzuteilen. Eine zutiefst schockierende Erkenntnis, der wir uns zu stellen haben. Jetzt und ohne Wenn und Aber. Dafür gibt es keine Ausflüchte und schalen Entschuldigungen.“
Rosi Dicke sagt abschließend: „Uns geht es wohlgemerkt nicht um immer wieder neue Schuldzuweisungen an das deutsche Volk. Uns geht es um echte Vergebung und Versöhnung, Verarbeitung auf beiden Seiten und daraus erwachsendes respektvolles Miteinander mit einer klaren Perspektive für ein gemeinsame, friedvolle Zukunft. In der einer den anderen als das sieht, was er ist: Ein einzigartiges Individuum mit den gleichen Rechten, zu leben, zu arbeiten, zu lieben und eine Familie zu gründen, wie man selbst. Es gibt keine Unterschiede zwischen uns. Kein lebens- oder lebensunwert. Wenn das endlich in den Köpfen und Herzen angekommen ist, wird es keine offenen Türen mehr geben für Ausländer- oder Judenhass und auch nicht für nationalsozialistisches Gedankengut.“
„Wehret den Anfängen“ – meine beiden Interviewpartner haben dies bereits vor vielen Jahren begriffen und sind zu Mahnern geworden, deren Stimmen mittlerweile weit über den MK hinweg Beachtung finden. Allein wäre das für die beiden nicht zu schaffen. Hinter ihnen stehen viele weitere engagierte BürgerInnen aus dem gesamten Märkischen Kreis, die sich aktiv „gegen das Vergessen“ stemmen und sich für eine öffentliche, ehrliche und fair geführte Diskussion gegen rechtes Gedankengut einsetzen.
Die „Ge-Denk-Zellen“ kann man besichtigen. Allein oder in Gruppen. Dazu darf man Matthias Wagner gern über die Webseite (http://www.ge-denk-zellen-altes-rathaus.de) der „Zellen“ kontaktieren und Termine vereinbaren. Man kann dort auch Mitglied werden. Die Aktionen der „Stolpersteine“ werden regelmäßig und rechtzeitig in der Presse und den Sozialen Medien angekündigt, ebenso wie die öffentlichen Veranstaltungen, die die „Freunde Israels“ gemeinsam mit den „Ge-Denk-Zellen“ oder auch mal im Alleingang organisieren.