Artikel Archiv
"Wir starten durch!"
16.7.2020
Ein Interview von Iris Kannenberg mit dem Werdohler Pfarrer Dirk Grzegorek über Herausforderungen und Möglichkeiten des digitalen Gottesdienstes

WERDOHL + Dirk Grzegorek ist seit 2002 Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Werdohl, verheiratet und hat vier Kinder. Die Gemeinde ist mit rund 6000 Mitgliedern ziemlich groß für das kleine Werdohl. Kein Wunder, denn die Gemeinde ist quicklebendig, mit vielen engagierten Gemeindemitgliedern und einer aktiven Jugendarbeit.
Dirk Grzegorek selbst ist sympathisch und bleibt in jeder Situation ganz er selbst. Er braust gerne einmal mit dem Motorrad oder Mountainbike durch das schöne Sauerland und ist auch sonst jemand, mit dem man „Pferde stehlen“ könnte. Wer ihn näher kennenlernt, findet in seiner Person echte Lebensfreude und eine innere Kraft, die andere mitzureißen, aber auch mitzutragen vermag. Vielleicht nimmt man ihm auch deswegen ohne Vorbehalte ab, dass sein Glaube Zentrum seines Lebens ist und sein Job als Pfarrer echte Berufung.
So etwas wie den Lock Down hat noch niemand von uns erlebt. Da geht es Dir nicht anders als allen anderen Menschen. Allerdings wurden ja auch gleich die Kirchen geschlossen. Dein Arbeitsplatz. Wie hast Du das als Pfarrer erlebt?
Das stand tatsächlich nicht auf meinem Lebensschirm. Wohl bei niemandem. Wir verbrachten kurz vor dem Lock Down noch einen Gemeindeabend mit unserer Gemeindepädagogin. An dem Abend wurde uns klar, dass wir reagieren müssen. Dass etwas auf uns zukommt, dessen Tragweite wir nicht übersehen konnten. Wir haben da bereits einen kleinen Corona-Krisenstab gegründet. Das war am 11. März. Am 16. März kam es bereits zum endgültigen Lock Down.
Mich persönlich hat die Situation schon überrollt. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt absehen, dass wir selbst jetzt noch so hier sitzen, wie wir gerade sitzen – mit Abstand. Dass dieser Lock Down so viele Einschnitte in die Gesellschaft mit sich bringt. Wir gehören ja als Kirche mitten hinein in diese Gesellschaft. Und mussten vom einen Moment auf den anderen realisieren, dass unsere gewohnten Gottesdienste nicht mehr möglich sein werden. Da standen schon einige größere Entscheidungen ins Haus. Dazu gehörten auch solche zu den unmittelbar bevorstehenden Festen, wie Konfirmation oder Ostern. Wir mussten ganz schnell darüber nachdenken, wie wir damit umzugehen haben.
Wir standen zudem kurz vor der großen Jugendveranstaltung Jesus House, die am 16. März beginnen sollte. Alles war dafür vorbereitet. Wir haben bis zuletzt gepokert, aber dann war klar: Wir können die Veranstaltung nicht halten.
Viele Kirchen haben umgehend reagiert und sind bereits eine Woche später mit ihren Gottesdiensten online gegangen. Wie war das bei euch?
Es gab ziemlich schnell die Überlegung, die Präsenzgottesdienste ins Web zu verlegen. Dafür waren einige Vorbereitungen nötig, die wir einfach „zusammengebastelt“ haben. Wenn ich sage „wir“, dann meine ich tatsächlich die vielen Gemeindemitglieder, die sich sofort zur Verfügung gestellt haben, um dieses Vorhaben mitzutragen. Dafür gab´s - ohne wenn und aber - Rückendeckung durch das Presbyterium und dazu einige technisch versierte Gemeindemitglieder, die ich kurzfristig zusammengetrommelt hatte. Wir trafen uns alle in der Kirche, um zu überlegen, was online überhaupt möglich sein könnte. Wir haben wirklich recht schnell reagiert und ein Studio mit dem Namen „Studio Friedenskirche“ gegründet. Das war unser Ort für die digitalen Aufnahmen.
Wo war euer Studio? Im Gottesdienstraum?
Teilweise. Es kam immer darauf an, wen wir als Musiker mit dabei hatten. Wir haben ja nicht live gestreamt. Wir haben aufgenommen, d.h. wir haben in der Woche vor dem offiziellen Online-Gottesdienst immer zwei Aufnahmetermine angesetzt. Einmal für die Wort- und einmal für die Musik-Aufnahme. Bei der Musik haben wir darauf geachtet, dass wir möglichst breit und abwechslungsreich aufgestellt waren. Von der Orgel bis zur Worship-Band war alles dabei. Das kann natürlich auch mal nach hinten losgehen, hat aber meistens funktioniert. Und war auf jeden Fall eine besondere Herausforderung. In einem leeren Kirchenraum entsteht z.B. auf einmal viel Hall und Du musst von Seiten der Tontechnik entsprechend damit umgehen. Die Tontechniker und Bildtechniker waren wirklich herausgefordert und haben viel Zeit und Engagement darauf verwendet, ein optimales Ergebnis zu erzielen.
„Learning by doing“ war wahrscheinlich eure Tagesdevise ...
Oh ja. Man fängt bei Null an und schaut, was man hat. Also ganz konkret: Welche Kameras stehen uns zur Verfügung, was ist an Audio-Technik da und wie mobil ist das ganze. Die ersten Aufnahmen haben wir im Gemeinderaum gemacht. Mit Beleuchtung. Gar nicht in der Kirche. Auch die Beleuchtung ist nämlich eine echte Herausforderung. Ebenso wie die Sprechpositionen und die Überlegungen, wo man die Sprecher und an welchem Platz man die Musiker aufstellt. Die Corona-Vorgaben waren und sind ja eindeutig. Da gibt es nur wenige Spielräume.
Dazu war eine präzise zeitliche Taktung notwendig. Wann sind die Musiker dran, wann die Sprecher. Das musste genau besprochen werden. So fing das an mit unserem Online-Gottesdienst...
Wie ging es dann weiter?
Durch die Wochen hindurch sind wir Schritt für Schritt sicherer geworden, haben bei jeder Aufnahme dazu gelernt und immer wieder Material produziert, das gut war, aber dann eben auch mal für die Tonne. Leider mussten wir durchaus Aufnahmen wiederholen. Dazu kam erschwerend, dass wir ein Team hatten, das teilweise mitten im Abitur steckte. Einige waren im Home-Office, alle hatten plötzlich ihre Kinder zu Hause. Wieder andere haben noch voll gearbeitet und das eben unter diesen erschwerten Corona-Umständen. Das ging schon manchmal an die persönliche Belastungsgrenze. Für jeden.
Wir haben uns immer abends im Studio getroffen und sehr konzentriert gearbeitet. Dazu kam das Schneiden des Materials, das Zusammenführen der Kameras und der Tonspuren. Das ganze musste dann auf YouTube hochgeladen und entsprechend natürlich auch noch in den Sozialen Medien angekündigt werden. Um 10.30 Uhr ging der Gottesdienst dann 10 Wochen lang jeden Sonntag auf Sendung. Andere Gemeinden sendeten bereits per Live-Stream, aber wir haben die Gottesdienste lieber erst einmal vorher produziert. Schon, weil man für einen Live-Stream noch einmal eine andere Technik braucht und ein sehr schnelles Internet.
Jetzt sind Gottesdienste mit Besuchern wieder eingeschränkt möglich. Plant ihr parallel dazu weiterhin einen Online-Gottesdienst?
Das wäre zu aufwendig. Der nächste Schritt ist auch für uns der Live-Stream. Einfach, weil durch die hohen Corona-Auflagen trotz Kirchenöffnung ja nach wie vor nur relativ wenige Personen am Gottesdienst teilnehmen können.
Wie habt ihr es hinbekommt in dieser Schockstarre, in der wir uns alle befunden haben, ohne Übergang gleich auf 100% Leistung hochzufahren?
Wir Pfarrer waren einfach gefordert, da nicht aufzugeben. Klar, ich hätte mich hinsetzen können, den Kopf zwischen den Knien und hätte sagen können: „Oh weh, die Welt geht unter!!“ Aber dafür bin ich nicht der Typ. Ich hatte, wie alle anderen auch, die Wahl, das Beste aus der Situation zu machen. D.h. rauszugehen, Menschen mitzunehmen und mit ihnen gemeinsam ein wenig Sonnenschein in diese doch recht dunkle Zeit zu bringen. Wir haben daher schon mit Volldampf – und ja, da hab ich tatsächlich aufs Gaspedal getreten – zugesehen, dass die Gemeinde nicht einfach in ein schwarzes Loch fiel, sondern entsprechend schnell aufgefangen wurde. Dazu gehörten der Online-Gottesdienst, aber auch sehr viele E-Mails, Online-Konferenzen und Telefonate.
Das betraf und betrifft alle Bereiche kirchlichen Lebens?
Natürlich. Es war neben den Gottesdiensten ja auch vom ersten Tag an zu überlegen, wie wir als Kirche jetzt mit den Senioren umgehen, mit den Konfirmanden, mit den Hilfsprojekten, mit der Frauenarbeit, mit Seelsorgegesprächen, Krankenbesuchen und den vielen anderen Bereichen, die Gemeinde beinhaltet.
Wie setzt ihr das um?
Wir setzen alles ein, was uns an Kommunikation zur Verfügung steht. Das bedeutet natürlich ohne Ende Zoom-Konferenzen. Die Jugend ist viel auf Discord unterwegs. Aber – und das merken wohl alle gerade – es macht sich jetzt nach einem Vierteljahr Corona doch eine spürbare digitale Müdigkeit bemerkbar. Ein richtiger Überdruss. Echtes Miteinander ist eben auf die Dauer nicht durch digitale Medien zu ersetzen. Über so einen langen Zeitraum digital die Anspannung zu erhalten, ist schon richtig anstrengend. Das merke ich auch gerade selbst bei mir.
Glücklicherweise konnten wir jetzt schon mehrfach einfach draußen vor der Kirche Gottesdienste abhalten. Die sogenannten Präsenzgottesdienste im Inneren der Kirche sind ja auch noch irgendwie schräg. Mit Maske und Abstand und ohne gemeinsames Singen.
Seid ihr als Gemeinde enger zusammengewachsen?
Ja, auf jeden Fall. Das merkt man ganz deutlich. Das hat uns sehr zusammengeschweißt.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir versuchen, den Live-Stream an den Start zu bekommen und bauen dafür die Technik-Theke gerade um. Es gibt ein Hardware-Konzept, das umgesetzt werden muss. Wir waren technisch schon gut aufgestellt, hatten aber keine vernünftige Internet-Verbindung. Dieses Problem mussten wir auch erst beheben, jetzt sollte es aber gehen. Ich weiß nicht, ob wir das alles noch vor den Sommerferien hinbekommen, aber wir geben unser Bestes. Es gibt eben immer wieder neue Herausforderungen und Hürden, die zu überwinden sind. Dazu unglaublich viele neue und ständig wechselnde Anweisungen, wie mit Corona umzugehen ist. Das erschwert vieles zusätzlich. Ein Beispiel ist unser junger Vikar Andreas Hoenemann. Seine erste Predigt in unserer Gemeinde musste er vor leeren Kirchenbänken in eine Kamera hinein halten. Seine zweite Predigt dann vor maskierten Menschen. So etwas kann man nicht planen und damit kann man auch nicht rechnen. Absolutes Neuland. Aber er hat das richtig gut gemacht. Hut ab dafür!
Wie geht ihr ganz persönlich mit eurer Online-Präsenz um?
Bei keinem Gottesdienst vorher hat sich irgendwer Gedanken darüber gemacht, ob er sich verspricht oder einfach mal verspielt. Das war eben so. Jetzt setzt man sich schon unter Druck, weil man sich plötzlich Gedanken darüber macht, dass so einen Gottesdienst ja viel mehr Menschen sehen. Und die bemerken dann vielleicht auch jeden Fehler. Das übt schon irgendwie Druck aus und es war für alle eine echte Versuchung, bei den Online-Gottesdiensten alles so gut es geht, zu optimieren. Einfach immer wieder von vorne zu beginnen und Fehler auszumerzen. Perfekt abzuliefern. Aber was genau ist das Web dann in dem Moment für uns? Eine Kontrollinstanz? Eine Perfektionsmaschine? Eigentlich ist es doch normal, Fehler zu machen. Das macht das ganze menschlich.
Holt die Landeskirche jetzt auf? Es gab sie ja vorher kaum im Web zu sehen, während die Freikirchen schon seit Jahren das Internet bespielen und ganz selbstverständlich damit umgehen.
Ich würde nicht sagen, dass wir etwas aufzuholen hätten, aber wir haben diese digitalen Möglichkeiten schon ein wenig unterschätzt und ignoriert. Was wir auf jeden Fall durch die Klicks auf unsere Online-Gottesdienste sehen können, ist, dass wir so viel mehr Menschen erreichen, als mit den Präsenzgottesdiensten. Und eben auch weit über Werdohl hinaus. Auch ehemalige Gemeindemitglieder, die weggezogen sind, sind begeistert darüber, dass sie uns auf einmal wiedersehen und an den Gottesdiensten teilnehmen können.
Das ist auf jeden Fall etwas, was uns sehr freut, nicht, weil wir uns selbst darstellen wollen, sondern weil wir in erster Linie das Evangelium verkündigen. Und wir so eben auch besser die Jugendlichen erreichen und junge Familien mit kleinen Kindern, die vielleicht sonst lieber mal zu Hause bleiben. Überhaupt die Menschen zwischen 30 und 50 Jahren: Die gehen da ja ganz normal mit um. Viele haben sogar darauf gewartet, dass wir diesen Schritt tun und sagen „ENDLICH!“. Natürlich gibt es von Seiten der Kirche auch eine gewisse Zurückhaltung, was digitale Medien betrifft. Aber so, wie damals der Buchdruck neu war und Martin Luther doch maßgeblich dabei geholfen hat, seine Bibelübersetzung in die ganze Welt zu verteilen, so hilft uns heute das Internet, unsere Botschaft weiter zu verbreiten. Gerade dann, wenn unsere Kirchen geschlossen oder nur eingeschränkt nutzbar sind. Es hilft uns sogar, eine größere Reichweite zu erzielen. Für uns als Kirche heißt das daher jetzt wohl ganz konkret: Es kann keinen Vorbehalt mehr gegenüber den digitalen Medien geben. Wir starten durch!