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„Wenn Dich eine Rakete trifft, dann spreche ich nicht mehr mit Dir.“

15.2.2025

Nur eines der vielen Gräberfelder der am 7. Oktober 2023 zu Tode gekommenen Jugendlichen, Kinder, Familien und Senioren (Fotos: Bretschneider / Lindtstädt / Kannenberg)
Nur eines der vielen Gräberfelder der am 7. Oktober 2023 zu Tode gekommenen Jugendlichen, Kinder, Familien und Senioren (Fotos: Bretschneider / Lindtstädt / Kannenberg)

Von Iris Kannenberg

 

LÜDENSCHEID + Jens Bretschneider und Birte Lindtstädt sind zwei engagierte evangelische Christen aus Lüdenscheid mit einer großen Liebe zum jüdischen Volk und dem Land Israel. Immer wieder sind sie aktiv mit dabei, wenn es im Märkischen Kreis und weit darüber hinaus um Aktionen gegen Antisemitismus, für ‚Stolpersteinverlegung‘ – die besonderen Holocaust-Mahnmale in Lüdenscheid - oder auch um die Arbeit mit Holocaust-Überlebenden geht. Oft mit ihrer Musik, denn beide sind begabte Musiker. Aber auch ganz praktisch. Jens Bretschneider kann als gelernter Handwerker eigentlich alles, was man dazu braucht, ein Haus von oben bis unten zu renovieren.

 

Beide machte die Geschehnisse rund um den 7. Oktober 2023 sehr betroffen. An diesem Tag wurde Israel ohne Vorwarnung von der Hamas überfallen. Außer diverser Gräueltaten an Kindern, Jugendlichen, alten Menschen und ganzen Familien hinterließen die Terroristen auch ein Bild der Verwüstung in den Kibbuzim direkt an der Grenze zu Gaza, die teilweise vollständig zerstört wurden. „Wie können wir helfen?“, war der spontane Gedanke, der beide nicht mehr losließ. Birte flog bereits 2023 mit einer Gruppe Lüdenscheider nach Israel, um sich ein Bild vor Ort von dem Ausmaß des Überfalls zu machen.

 

Es war schlimmer, als gedacht. Da viele Israelis umgekommen waren oder zur Armee eingezogen wurden, fehlten Helfer, um die Ernten einzuholen. Die zerstörten Kibbuzim konnten daher ebenfalls nicht wieder aufgebaut werden. Christen weltweit waren zutiefst erschüttert von den Geschehnissen in Israel und ließen sich von Gott rufen. Die ersten Helfer kamen daher bereits im Oktober 2023 ins Land. Seitdem bekommt Israel aktive Unterstützung durch engagierte Christen, die sich dem Land und dem Volk, aus dem Jesus stammt, zutiefst verpflichtet fühlen.

 

Birte Lindtstädt flog im letzten Jahr mehrmals als Erntehelferin nach Israel, einmal gemeinsam mit ihrem Ehemann Armin. Ihre Tochter Rachel verpflichtete sich für ein freiwilliges Auslandsjahres in einer sozialen israelischen Einrichtung. Zudem ist Birte im Land als Musikerin aktiv und spielte zuletzt sogar vor Soldaten der IDF, um ihnen Mut zu machen, bevor es wieder ins Feld ging.

 

Jens Bretschneider stellte dem Land seine handwerklichen Fähigkeiten zur Verfügung. Im Oktober 2024, fast genau auf den Tag ein Jahr nach dem Anschlag, kam er dazu in Israel an. Er erzählt: „Viele haben mich gefragt, ob wir von Sinnen sind!? In dieser unsicheren Situation nach Israel zu fliegen. Jemand anderes hat mir eher spaßhaft gesagt, dass er nicht mehr mit mir spricht, wenn mich eine Rakete treffen sollte. Ich habe mir aber gedacht: Besucht man nicht gerade dann Freunde, wenn es ihnen nicht gut geht?! Auch wenn es vielleicht gefährlich ist? Wir waren insgesamt neun Christen aus Deutschland, die Ende letzten Jahres in Israel ankamen. Und wir wurden dort sofort mit den unmittelbaren Folgen des Überfalls konfrontiert. Am Flughafen in Tel Aviv ,,begrüßten’’ uns als erstes die Fotos der Geiseln, die noch in der Gefangenschaft der Hamas sind. Überall war der Aufruf zu lesen: Bring them home now!“

 

„Birte fuhr die erste Woche nach Nizzana, um bei der Ernte zu helfen, bevor sie später zu uns stieß“, erzählt Jens Bretschneider weiter. „Wir anderen fuhren vom Flughafen durch das trotz des Krieges immer noch wunderschöne Land Israel in den Süden. Unser Ziel war der Kibbuz Nirim, vier Kilometer vom Gazastreifen gelegen. Unterwegs wurde die Veränderung im Land dann doch deutlich spürbar. Es waren viel weniger Autos in Richtung Süden unterwegs als ich das von vorherigen Reisen nach Israel kannte. Und wir stellten uns durchaus die bange Frage: Was wollen wir eigentlich in Nirim, so nah am Kampfgebiet Gaza?“

 

Über die Organisation ‚Sächsische Israelfreunde‘, kurz ‚SIF‘ war die Gruppe eingereist. Diese Organisation hilft seit über 20 Jahren im Land, vor allem unter Holocaust-Überlebenden, die z.T. in großer Armut leben. Sie renovieren Wohnungen, bauen Suppenküchen und unterstützen auch sonst, wo immer Hilfe benötigt wird. Die ‚SIF‘ sind bekannt in Israel. Daher wurden sie von Israel selbst um Hilfe beim Aufräumen und Wiederaufbau in den durch Krieg und Massaker von Zerstörung gezeichneten Kibbuzim angefragt. Jens Bretschneider und das Team waren die ersten Helfer der ‚SIF‘, die in den Kibbuz Nirim kam, um dort zu helfen.

 

Der 07.10. 2024 sollte der erste Arbeitstag sein. Im Kibbuz wurde das Team aber erst einmal zu einer Gedenkveranstaltung, zu der sich auch Israels Präsident Jitzchak Herzog angekündigt hatte, eingeladen. Eine große Ehre. Der Kibbuz selbst ist seit dem 7. Oktober militärisches Sperrgebiet und darf offiziell eigentlich nicht bewohnt werden. Trotzdem leben von den einst 500(!) Menschen immer noch 24 im Kibbuz. 1000 Kühe, viele Katzen und eine Papageienzucht wollen nach wie vor versorgt sein.

 

„Die Gedenkveranstaltung erschütterte mein Herz“, blickt Bretschneider zurück. „So viele traurige und weinende Menschen habe ich zuvor noch nie gesehen. Es schienen fast alle überlebenden Bewohner gekommen zu sein. Sie wohnen jetzt größtenteils in Beer Sheba, bzw. Nahariya in verschiedenen Unterkünften. Teilweise in einem Pflegeheim, das zurzeit ständig Raketenalarmen ausgesetzt ist.“

 

Am 8. Oktober startete das Helfer-Team dann in die praktische Arbeit. Ihnen wurden zunächst sechs Häuser zur Renovierung übergeben. Hauptproblem waren die viele Risse, die sich durch die Wände zogen. Diese entstanden durch die Erschütterungen der Tunnelsprengungen und die Raketenangriffe aus Gaza. So hieß es, die Schäden zu begutachten, die Risse aufzustemmen und mit einem Leichtputz und einer Elastikbinde wieder zu verschließen. Zum Abschluss wurden die Wände noch mit Spachtelmasse geglättet und gestrichen.

 

Viel Arbeit bei 30 Grad und viel Staub, aber es war schön zu sehen, wie das Helfer-Team fleißig ans Werk ging. Der technische Leiter des Kibbuz schrieb Bretschneider später: „Ihr seid wirklich besondere Menschen und ein Gewinn für uns!’’. Die Arbeit machte trotz aller Anstrengung Freude, denn im Team herrschte eine gute Gemeinschaft. „Wir verstanden uns auf Anhieb. Das war schon etwas besonders, da wir uns zuvor nicht kannten. Für mich als Teamleiter war es erst einmal eine große Herausforderung, mit Menschen zu arbeiten, von denen ich nicht wusste, was sie handwerklich konnten. Ich kannte ja auch die Baustelle noch nicht. Daher war alles zunächst sehr spannend“, berichtet Bretschneider. „Ein Haus hat mich besonders berührt, besser gesagt erschüttert. Auf dem Tisch lag immer noch die Tageszeitung vom 06.10.2023, an der Wand hing der Kalender vom Oktober 2023. Auf einem Wäschetrockner hing noch Wäsche. Als ob jemand die Zeit angehalten hätte. Die Bewohner konnten bisher aufgrund der Schäden und der gefährlichen Gesamtsituation nicht in ihr Haus zurückkehren. Später kam doch noch die Tochter des Hauses vorbei. Sie holte ein paar Sachen ab und war erfreut darüber, dass wir das Haus ihrer Eltern wieder herrichteten. Einige Bewohner des Kibbuz hatten mittlerweile signalisiert, dass sie trotz der stetigen Gefahr irgendwann zurückkommen wollten.“

 

In der zweiten Woche stieß dann Birte Lindtstädt zu den Helfern, um mit drei Männern aus dem Team nach Ma’alot zu fahren. Dort befindet sich das Pflegeheim ‚Zedaka‘. Dieses Heim hatte ebenfalls um handwerkliche Hilfe gebeten. Zudem ist Birtes Tochter Rachel dort im Rahmen ihres freiwilligen Auslandsjahres eingesetzt. Zuvor half Birte in Nizzana bei der Ernte von Tomaten, Kürbissen und Kohlrabi, sowie beim Einpflanzen von 60.000 Jungpflanzen. Eine wichtige Unterstützung, da überall die Arbeiter in Israel fehlen. Der Krieg hat große Lücken gerissen.


Während des Arbeitseinsatzes durfte das Team zwei der höchsten Feiertage Israels in dem Kibbuz mitfeiern: Den großen Versöhnungstag ‚Yom Kippur‘ und das Laubhüttenfest ‚Sukkot‘. Etwas ganz Besonderes für die Helfer. Nirim war vor dem Krieg eher säkular, sprich, es lebten dort vor allem nichtgläubige Juden. Das hat sich nach dem Anschlag geändert. In ganz Israel beobachtet man seit dem 7. Oktober eine neue Hinwendung zu Gott. So wurde auch in dem Kibbuz das erste Mal ‚Yom Kippur‘ gefeiert und man traf sich zum Gebet. Besonders berührend war für das Team von Jens Bretschneider das öffentliche Zeigen der Thorarolle, der mit größter Ehrfurcht begegnet wurde.

 

‚Yom Kippur‘ ist der Feiertag, an dem der Hohepriester früher ins „Allerheiligste“ des Tempels ging, um für sich und das ganze Volk Israel vor Gott um Vergebung ihrer Sünden zu bitten. Das Laubhüttenfest beginnt vier Tage später und dauert insgesamt acht Tage. Den Abschluss bildet das ‚Simchat Thora‘, ein Freudenfest zu Ehren des Empfangs der Thora, die durch Mose an das Volk übergeben wurde. An Sukkot baut man den Anweisungen der Thora entsprechend sogenannte Sukkas (Laubhütten), zum Gedenken an die Wüstenwanderung des Volkes Israels nach dem Auszug aus Ägypten. „Wir schlossen uns diesem Brauch an und bauten zum Beispiel im Pflegeheim ‚Zedaka‘ eine eigene Sukka“, so Bretschneider.

 

Der Abschluss Einsatzes erfolgte für das Team dann in Jerusalem. Michael Schneider, ein bekannter Reiseleiter, führte die Helfer bis zur Westmauer, auch als Klagemauer bekannt. Er lehrte viel aus der Geschichte des jüdischen Volkes und erklärte anhand der Bibel die geistlichen Zusammenhänge.

 

Ein Highlight der Zeit in Jerusalem war das Treffen mit Mirjam Holmer. Sie ist die Enkelin des weit über Deutschland hinaus bekannten Pfarrers Uwe Holmer. Uwe Holmer war ein deutscher Theologe, Pastor und Autor. Bekannt wurde er Anfang 1990, als er im Zuge der friedlichen Revolution in der DDR Erich Honecker sowie dessen Ehefrau Margot bei sich in Bethel aufnahm. Seine Enkelin arbeitet heute als Journalistin in Israel. Von ihr erfuhren die Helfer interessantes über die politischen Zusammenhänge hinter dem Überfall und dem darauffolgenden Krieg. Holmer spricht Hebräisch und versteht als studierte Islamwissenschaftlerin auch die arabische Sprache. Sie hat daher tiefe Einblicke in beide Kulturen gewinnen können. Ihr dringender Appell an die Christen in Deutschland und Europa: „Bitte betet! Haltet Solidarität mit Israel!“

 

Auch jetzt, wo Jens Bretschneider wieder in Deutschland ist, sind die vielen Eindrücke der Reise in das Heilige Land immer noch stark präsent. Es ist nicht einfach, das Ganze zu verarbeiten. All die Erlebnisse, der Kriegslärm aus dem Gazastreifen, die Erschütterungen, die man in Nirim gespürt hat. Das Gefühl von ständiger Gefahr. Gerade, wenn man vor Ort ist und dies alles ganz real miterlebt, bangt und fühlt man mit dem Volk und Gottes verheißenem Land.

 

„Mein Appell an uns Christen ist: Lasst uns beten, dass Israel den gegen seine Existenz gerichteten Terrorismus aufhalten kann und eine Zeit der Ruhe einkehrt, in der sich das Land erholt, um die Schrecken des 7. Oktobers zu verarbeiten. Sie haben ein tiefes Trauma im Volk hinterlassen. Lasst uns beten, dass alle Geiseln endlich freigelassen werden. Ich komme zudem nach den Erfahrungen dieser Reise immer mehr zu der Überzeugung: Wirklichen ewigen Frieden wird es für Israel erst geben, wenn der Messias wiederkommt. Ich empfinde zutiefst, dass die Zeit reif dafür ist, das Trennende, das leider oft immer noch zwischen Christen und Juden besteht, zu überwinden und einander die Hand zu reichen, um gemeinsam auf Yeshua - der hebräische Name Jesu - zu warten“, erzählt Bretschneider ganz persönlich.

 

Der Bericht von Jens Bretschneider ist beeindruckend. Israel braucht mehr denn je das Gebet, aber auch die ganz praktische Hilfe der Christenheit. Wenn nicht Christen für das Volk Gottes einstehen, wer sollte es dann tun? Man sollte daher nicht nachlassen. Angesichts dessen, was gerade im Nahen Osten passiert, ist gerade das Gebet bitter nötig. Manches, was vor Ort passierts, kann man nicht verstehen. Eines ist jedoch sicher: Israel und die Gemeinde sind gemeinsam der eine Ölbaum, von dem der Apostel Paulus in Römer 11,16 bis 24 spricht. Christen und Juden sollte man nicht getrennt voneinander betrachten. Denn was würden die Zweige ohne die Wurzel und die Wurzel ohne die Zweige tun? Sie würden beide verdorren. Christen und Juden gehören daher untrennbar zusammen. Als das Volk Gottes. Für immer!

Bildimpressionen von Jens Bretschneider und Birte Lindtstädt (alles Fotos: Bretschneider / Lindtstädt / Kannenberg)

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