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Im Kibbuz auf die Flucht nach Hause gewartet

28.10.2023

Einen Tag vor dem Terrorangriff der Hamas auf Israel: Pfarrer Achim Riggert (links) mit Yah-El, dem Vater einer Drusenfamilie (Foto: Privat/Riggert)
Einen Tag vor dem Terrorangriff der Hamas auf Israel: Pfarrer Achim Riggert (links) mit Yah-El, dem Vater einer Drusenfamilie (Foto: Privat/Riggert)

Von Bettina Görlitzer

 

LÜDENSCHEID + Es sollte eine schöne Reise mit vielen Begegnungen werden, aber ganz plötzlich sah sich die Gruppe, zu der auch Achim Riggert, Pfarrer des Evangelischen Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg, und seine Frau gehörten, konfrontiert mit einem Land im Schockzustand und der Sorge um die eigene Sicherheit.

 

Einen Tag vor den Anschlägen der Hamas waren sie in Israel angekommen und standen rund 24 Stunden später vor einer Bedrohungssituation, „die ich so noch nie erlebt habe“, berichtet Riggert. Anstatt neun Tage durch das Land zu reisen, befand sich die Gruppe plötzlich regelrecht auf der Flucht, mit dem einzigen Wunsch, möglichst schnell nach Hause zu kommen. Die Rückreise gelang nach insgesamt fünf Tagen über Jordanien und die Türkei und dauerte vom Abflug in Amman bis zur Ankunft zuhause in Schwerte fast 24 Stunden. „Das war die längste Reisezeit, die ich je erlebt habe“, sagt Riggert, der für den Kirchenkreis unter anderem im interreligiösen Forum aktiv ist.

Das ist der Eingang zu dem Bunker, in dem die Reisegruppe bei Raketenalarm im Kibbuz Schutz suchte (Foto: Privat/Riggert)
Das ist der Eingang zu dem Bunker, in dem die Reisegruppe bei Raketenalarm im Kibbuz Schutz suchte (Foto: Privat/Riggert)

Dabei hatte der Aufenthalt planmäßig begonnen. Am Freitag, einen Tag vor den Anschlägen der Hamas, war die Gruppe im Norden Israels angekommen, zunächst untergebracht im Gästehaus Stella Maris des Karmeliterordens im Karmelgebirge. Am Samstag, 7. Oktober, traf die Gruppe Angehörige der religiösen Minderheit der Drusen zu Gesprächen. Es habe zwar erste Informationen gegeben, dass „etwas passiert“ sei, aber das gesamte Ausmaß des Anschlags sei erst nach und nach durchgesickert – erst recht als die ersten besorgten Anfragen aus Deutschland kamen. „Da ist mir ganz anders geworden“, sagt Riggert, der Israel gut kennt. Vor 45 Jahren absolvierte er dort einen internationalen Friedensdienst der Aktion Sühnezeichen, seitdem war er fünf weitere Male im Land und hat auch ein bisschen Hebräisch gelernt. An einen normalen Aufenthalt war nicht mehr zu denken, begleitet von der Reiseagentur wurde improvisiert. Es ging für die Gruppe in den Kibbuz Shaar Ha Golan am Südende des Sees Genezareth, der geplanten zweiten Reisestation. Aber anstatt von dort weiterzureisen, blieben die Deutschen bis zur Ausreise dort.

 

Am Sonntag waren sie noch unterwegs, besichtigten eine Ausgrabungsstätte, dort seien nur wenige Menschen gewesen, auch die Straßen waren leer, „gespenstisch“, sagt Riggert. Das ganze Land habe unter Schock gestanden, selbst der israelische Guide. Das kannte Riggert so nicht. Die vorherrschende Mentalität sei, Besuchern zu zeigen, dass Israel nicht von Terror geprägt sei, „sondern ein Land, in dem man gut leben kann“, auch wenn Raketenangriffe und Anschläge fast zum Alltag gehören. In dem Kibbuz, in dem die Gruppe nur 100 Meter von der jordanischen Grenze entfernt gewartet hat, wie es weitergeht, habe man ebenfalls gespürt, welche Traumata bei den Israelis heraufbeschworen wurden. „Das war der größte Anschlag auf Israel, auf das Leben von Juden seit der Shoah“, sagt Riggert. „Zeitgleich gibt es eine große Wut und Zorn auf die bestehende Regierung“, weil diese sich nicht mehr auf die Sicherheit des Landes fokussiert habe. Ein ausführliches Gespräch über die aktuelle Situation und Traumata aus der Vergangenheit führte die Gruppe mit einer Frau, die seit 60 Jahren in dem Kibbuz lebt. Der passende Ort dafür war einer der Bunker auf dem Gelände. Dort erzählte die Frau unter anderem vom Sechs-Tage-Krieg 1967. Drei Jahre lang sei das Land danach immer wieder beschossen worden, täglich hätten die Menschen die Bunker aufsuchen müssen, die Kinder hätten sogar nachts darin geschlafen.

Fast grotesk: Die deutsche Reisegruppe kam auf einer ihrer Fahrten an einer Wand mit Friedensbotschaften vorbei (Foto: Privat/Riggert)
Fast grotesk: Die deutsche Reisegruppe kam auf einer ihrer Fahrten an einer Wand mit Friedensbotschaften vorbei (Foto: Privat/Riggert)

Die christliche Reisegruppe hat noch auf dem Berg der Seligpreisungen am See Genezareth, wo Jesus, die Bergpredigt gehalten haben soll, einen Gottesdienst gefeiert. „Unter dem Eindruck der Ereignisse bekommt es einen ganz anderen Stellenwert, was es bedeutet, über Frieden zu predigen und für Frieden einzustehen“, betont Riggert. Mehrere Tage harrte die Gruppe im Kibbuz aus. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch sollte dann ein Flug von Amman nach Ankara gehen. „Drei Stunden haben wir an der Grenze gestanden, dann brauchten wir noch mal drei Stunden, um die Visa-Angelegenheiten zu klären.“ Die Reiseagentur habe einen Bus organisiert, mit dem die Gruppe von der Grenze zum Flughafen fuhr, aber Turkish Airlines habe den Flug gecancelt. Betreut von Mitarbeitern der deutschen Botschaft blieben die Reisenden also noch einen Tag in Jordanien, bevor um Mitternacht in der Nacht zum Donnerstag der Flieger nach Ankara doch abhob. Von dort ging es weiter nach Istanbul, mit einer weiteren Verzögerung wegen einer Umbuchung, und dann nach München. Mit S-Bahn, ICE und Regionalexpress waren Riggert und seine Frau schließlich fast 24 Stunden nach dem Abflug aus Amman zuhause.

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