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Seit 30 Jahren Freunde
28.11.2022

LÜDENSCHEID + Der Obdachlosen-Freundeskreis (OFK), der eng mit der Evangelischen Kirchengemeinde Oberrahmede verbunden ist, ist in diesem Monat 30 Jahre alt geworden. Seine Anfänge gehen auf den November des Jahres 1992 zurück. Der Wohnungsnotstand, der seinerzeit in Lüdenscheid sehr groß war – 50 Personen hatten kein Dach über dem Kopf – bewog Gemeindepfarrerin Monika Deitenbeck-Goseberg dazu, den OFK zu gründen. 56 Leute aus den evangelischen, katholischen und freikirchlichen Gemeinden, Gewerkschaftsgruppen und Vereinen der Stadt, die sie angeschrieben hatte, waren ihrem Aufruf gefolgt und riefen den OFK ins Leben.
Etwa zeitgleich führten die „Lüdenscheider Nachrichten“ die Aktion „Wir bauen ein Dach“ durch, die die Lüdenscheider Bevölkerung dazu bewog, vom November bis Mitte Dezember die Rekordsumme von 143.000 Euro für die Anschaffung von drei Containern und zehn Wohnwagen zu spenden. Für diese zeichneten die Johanniter verantwortlich. Der OFK machte es sich zur Aufgabe, die am Nattenberg stationierten Container und die Wohnwagen an der Hohen Steinert wöchentlich zu besuchen. Dabei kamen die Besuchsteams hautnah mit den Lebensgeschichten der Bewohner in Berührung. Sie luden sie zu Gemeindeveranstaltungen, Konzerten und anderen Ereignissen ein, um sie wieder möglichst nah an die „Normalität“ heranzuführen. Im Dezember 1993 wandte sich der OFK an alle Lüdenscheider Wohnungsbaugesellschaften mit der Bitte, ihm Wohnungen zu vermieten. Daraufhin konnten ab 1994 zunächst zwei Wohnungen von den Wohnstätten Mark angemietet werden. Diese Zahl erhöhte sich auf 19 Wohnungen, für die mit den Obdachlosen erst einmal Untermieterverträge abgeschlossen wurden. Aufgrund der guten Erfahrungen wurden diese um das Jahr 2000 in eigenständige Mietverträge umgewandelt.

An die Stelle der Notschlafstellen in den Containern trat Mitte der neunziger Jahre das Wohnheim für Männer in besonderen sozialen Schwierigkeiten im Amalie-Sieveking-Haus (Einrichtung der Evangelischen Perthes-Stiftung e.V.). Über viele Jahre standen die im Umgang mit Obdachlosen erfahrenen Caritas-Mitarbeiter Thomas Becker und Ulrich Birkner dem OFK begleitend und beratend zur Seite, die ihm mit ihren Erfahrungen halfen, allmählich in ihre Arbeit hineinzuwachsen. Mehrmals im Jahr trafen sich OFK-Mitarbeiter mit Vertretern der Stadt, der Caritas, der Johanniter und der Perthes-Stiftung zum Erfahrungsaustausch am „Runden Tisch“.
Nach Auflösung der Container fanden die wöchentlichen Mittwochstreffen mehrere Jahre in Räumen der Caritas statt. Um 2005 wechselte man ins Gemeindezentrum der Erlöserkirche, wo sich aus den Zusammenkünften das Montags-Bistro entwickelte, das an jedem Montag von 18 bis 22 Uhr allen offensteht, die am Rande der Gesellschaft stehen: Obdachlosen, die vom OFK betreut werden, Menschen mit Alkoholproblemen, Nichtsesshaften, die eine Anlaufstelle suchen, Kontakte knüpfen und die Gemeinschaft pflegen möchten. Im Montags-Bistro finden sich regelmäßig rund 70 Gäste ein, die das zwanglose, gemütliche Beisammensein und die familiäre Atmosphäre schätzen, in der sie Ansprechpartner für ihre Probleme finden, mit den Mitarbeitern und anderen Besuchern spielen, klönen und gemeinsam speisen können. Die Mitarbeiter, deren ehrenamtliches Engagement gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, vermitteln ihren Gästen durch mancherlei Zeichen der Zuwendung das Gefühl des Angenommenseins. Deren hohem Gesprächs- und Begleitungsbedarf kommen sie entgegen, indem sie sich viel Zeit für sie und ihre Probleme nehmen. Für viele Bistro-Gäste ist inzwischen auch das dem gemeinsamen Essen vorausgehende Gebet, in das die Sorgen der Obdachlosen eingeschlossen werden, sowie die Kurzandacht („SMS von Gott“) ganz wichtig geworden.

Das Konzept der OFK-Arbeit hat sich erst allmählich herausgebildet. Die Ehrenamtlichen, von denen eine ganze Reihe diese über viele Jahre unterstützt haben, ließen sich durch die genannten Caritas-Mitarbeiter belehren und lernten mit der Zeit eine Menge hinzu. Heute sind an jedem Bistro-Abend mehrere von ihnen im Einsatz. Weitere stehen für Vertretungsdienste zur Verfügung oder machen sich durch Bewirtungsdienste bei kirchlichen, städtischen und anderen Veranstaltungen, durch Trödelmärkte und Möbeldienste für die OFK-Arbeit stark. Bei letzterem geht es darum, dass geschenkte Möbel abgebaut und kostenlos an Bedürftige weitergegeben werden. Dank eines geschenkten alten Bullis wurde es möglich, Möbel zu transportieren und Fahrdienste für Obdachlose zu übernehmen, die an den Sonntagsgottesdiensten und besonderen Veranstaltungen in der Kirche Oberrahmede teilnehmen möchten. Der sonntägliche Fahrdienst besteht seit Mitte der neunziger Jahre. Die Caritas wird noch bei besonderen Aktionen vom OFK unterstützt.
Im Kirchenhaus Oberrahmeder gibt es an mehreren Werktagen ein Mittagessen für alle, die daran teilnehmen möchten. Das Konzept der Gastfreundschaft wurde Mitte der neunziger Jahre zunächst dadurch realisiert, dass die „Obdis“ an der Kirchentür mithalfen, die Besucher freundlich mit Süßigkeiten zu empfangen. In der Folgezeit wurde der OFK immer häufiger darum gebeten, Verpflegungsdienste zu übernehmen. Inzwischen serviert er bei vielen Veranstaltungen Kaffee, Kuchen, Würstchen, Waffeln und Pommes frites. Das Catering ist allmählich eine gute Einnahmequelle für die OFK-Arbeit geworden. Sie wird außerdem durch Spenden, Kollekten sowie aus den Einnahmen aus Trödelverkäufen getragen.

Im Laufe der Jahre kam es zu einer immer engeren Verzahnung zwischen OFK- und Gemeindearbeit. Viele ehemalige Obdachlose haben eine Heimat in der Kirchengemeinde gefunden, erfahren dort Gastfreundschaft und Wertschätzung. Krankenhausbesuche, Geburtstagsfeiern, das gemeinsame Ostereierfärben und das Osterfrühstück, Gemeindewochenenden, die alljährlichen gemeinsamen Weihnachts- und Silvesterfeiern und Wanderungen, die über viele Jahre am Himmelfahrtstag zum Open-Air-Gottesdienst in Niederhunscheid führten, ließen die Gemeinde immer mehr mit ihren „Obdis“ zusammenwachsen. Inzwischen hat der OFK auch einen eigenen Bibelkreis, der sich regelmäßig dienstags im Gemeindezentrum der Erlöserkirche trifft. Zwar musste man auch immer mal wieder Rückschläge hinnehmen. Doch es gibt auch viele positive Erfahrungen. Inzwischen haben nämlich viele Menschen dank der Begleitung durch den OFK ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Heute kommt es dem OFK vor allem darauf an, Angeschlagene frühzeitig zu erreichen und möglichst gar nicht erst obdachlos werden zu lassen. Deshalb geht es ihm nicht allein um die Begleitung von Wohnungslosen, sondern um ihre Einbindung in ein Netz, das ihnen einen psychologischen Halt bietet und sie gleichzeitig in materieller Hinsicht dazu befähigt, dass sie wieder einen festen Boden unter den Füßen bekommen. „Der OFK ist wie eine große Familie.“, erklärte einmal Pfarrerin Monika Deitenbeck-Goseberg, die von 1994 an bis zu ihrem plötzlichen Tod im Februar 2020 dessen Sprecherin war.

Eine hohe Auszeichnung wurde dem OFK am 15. Oktober 2011 zuteil: der „Salzkorn“-Förderpreis, mit dem die Evangelische Landeskirche alljährlich Gruppen auszeichnet, die sich für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einsetzen. Albert Henz, seinerzeit Theologischer Vizepräsident der Evangelischen Kirche von Westfalen, der die Preisübergabe in Lippstadt vornahm, hob lobend hervor, dass es der evangelischen Kirchengemeinde Oberrahmede aus ganz bewusster christlicher Motivation heraus ein Anliegen sei, Obdachlose aufzunehmen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Förderer der OFK-Arbeit in den vergangenen Jahren waren unter anderem Dr. Heinz Horst Deichmann, Unternehmer und Leiter des Hilfswerks „Wort & Tat“, und der international bekannte Cellist Thomas Beckmann, der die Lüdenscheider Initiative durch mehrere großartige Benefizkonzerte unterstützte. Im Rahmen seines Auftritts am 2. Februar 2006 trat der damalige Bürgermeister Dieter Dzewas dem OFK bei.
Die Vakanz nach dem Tod von Pfarrerin Monika Deitenbeck-Goseberg wurde durch ein ehrenamtliches Team überbrückt, das sich aus Günter Bernhardt, Frank Alles, Ruth Giebels und Friedhelm Rosemann zusammensetzte. Dieses hat die OFK-Arbeit jetzt in die Hände von Hauptamtlichen gelegt. Das heißt, dass von nun an die beiden Pfarrer des Pastoralverbundes aus den Gemeinden Rahmede, Oberrahmede und Hülscheid-Heedfeld, Thorsten Brinkmeier und Michael Siol, sowie Prädikantin Ulrike Tetzlaff und Gemeindepädagogin Sabine Drescher die Verantwortung übernehmen. Die Ausgeschiedenen, die ein herzliches Dankeschön für ihren Einsatz entgegennehmen konnten, werden die OFK-Arbeit jedoch weiterhin unterstützen. ©ih
