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"Wer nichts aus der Geschichte lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen"

22.9.2023

Die Stolpersteine der Familie May und Moses. (Foto: Iris Kannenberg)
Die Stolpersteine der Familie May und Moses. (Foto: Iris Kannenberg)

LÜDENSCHEID + Im Gedenken an den Holocaust und des 75-jährigen Bestehens Israels luden die Lüdenscheider „Freunde Israels“ in Kooperation mit den „Gedenkzellen Altes Rathaus“ und der „Christlich-Jüdischen Gesellschaft“ am 15. September 2023 in Lüdenscheid zu der Verlegung von 13 Stolpersteinen in die Innenstadt ein. Mit ihnen wurde der ehemaligen Lüdenscheider Familien Moses und May, Koopmann und Noach gedacht, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

 

Die Veranstaltung begann bei gutem Wetter, Punkt 12.00 Uhr an der Wilhelmstraße 58, dem ehemaligen Wohnsitz der Familie Moses und May. Von dort aus geleitete der Leiter der „Gedenkzellen“, Matthias Wagner, die Anwesenden weiter über die Wilhelmstraße 51 (Familie Noach) zur Wilhelmstraße 36 (Familie Koopmann). Begleitet wurde die bewegende Aktion von Schülern dreier Lüdenscheider Schulen, die die Patenschaft für jeweils eine Familie und die Verlegung ihrer Stolpersteine übernommen hatten. Die FCSL Lüdenscheid (Frei Christliche Schule) übernahm dabei die Feierlichkeiten für die Familie Koopmann, das Geschwister-Scholl-Gymnasium die für die Familie Noach und das Zeppelin-Gymnasium die für Familie Moses und May. Die jungen Leute hatten sich außergewöhnlich gut für diese Veranstaltung vorbereitet und wussten anschaulich von den ehemaligen Bürgern Lüdenscheids, ihrem Leben und ihrer Verschleppung zu berichten. Was so manchem Anwesenden die Tränen in die Augen trieb. Die Violinistin Birte Lindtstaedt spielte dazu vor jedem Haus ein jüdisches Lied, das den Holocaust zum Inhalt hatte und unterstützte mit ihrer Musik so den Gesamteindruck von feierlichem Gedenken.

 

Beeindruckend, wie Hella Goldberg, die Vorsitzende der Christlich-Jüdischen Gesellschaft Lüdenscheid die Veranstaltung eröffnete: „Wir erinnern mit diesen Stolpersteinen an dreizehn jüdische Mitbewohner Lüdenscheids, die ihr Leben verloren, nur weil sie Juden waren. Inzwischen sind schon über 100.000 Stolpersteine in Europa verlegt worden. Die Idee des Künstlers Gunter Demnig war, mit diesem Projekt, das im Jahr 1992 begann, den Holocaustopfern, ihre Heimat zurückzugeben. Jeder einzelne Mensch, der im Holocaust gestorben ist, verdient Erinnerung, damit solch ein Unrecht nie wieder geschieht. Bei dem Begriff Stolpersteine geht es dabei aber nicht nur ums „stolpern“. Wenn man diese Steine genauer betrachten will, muss man sich bücken und damit symbolisch eine Verbeugung vor dem Opfer vollziehen. Dies dient als Respektbekundung ebenso wie zum Nachdenken und Erinnern mit Kopf und Herz.“

 

Weiter machte sie deutlich: „Wichtig für uns alle ist: Wenn wir die Vergangenheit vergessen, sind wir verdammt, sie wieder und wieder zu wiederholen. Wir sollten froh sein, dass in den letzten 30 Jahren viele Juden nach Deutschland gekommen sind und hier Heimat gefunden haben. Damit wurde jüdisches Leben auch bei uns wieder lebendig und vielfältig. Leider hat der Antisemitismus heute wieder sehr zugenommen. Wir dürfen diesmal nicht wegsehen, wenn Juden in Deutschland ausgegrenzt, diffamiert, bedroht oder sogar täglich angegriffen werden. Juden sind für uns keine Fremden, sie sind Teil von uns, dafür müssen wir eintreten. Sie sind Teil unserer Kultur und gehören zu unserem Volk. Ihre Menschenwürde müssen wir schützen und verteidigen. Packen wir es an!“

 

Matthias Wagner, Leiter der Lüdenscheider Gedenkzellen ergänzte: „Mit den Stolpersteinen erinnern wir uns heute an unsere jüdischen Lüdenscheider MitbürgerInnen, die den Nationalsozialisten auf grausame Weise zum Opfer fielen. Mit dem 15. September haben wir ein symbolträchtiges Datum für die Verlegung gewählt. Heute Abend beginnt das neue jüdische Jahr 5784 und wir feiern weltweit den Tag der Demokratie. 2023 wurde der Staat Israel zudem 75 Jahre alt. Die Stolpersteine verlegen wir in Erinnerung an die 114 jüdischen Mitbürger, die nach 1933 aus Lüdenscheid flüchten mussten oder deportiert wurden. 50 von ihnen wurden ermordet. Eines steht fest: Ohne die demokratische Initiative vieler Mitbürger, wären die jüdischen Opfer in Lüdenscheid ebenso vergessen wie mehr als 1000 andere, die in unserer Stadt unter der nationalsozialistischen Stadtverwaltung zu Tode kamen.

 

Dass wir uns heute hier zusammenfinden, ist ein Geschenk für uns und unsere Stadt, die sich ein hohes Verantwortungsbewusstsein für die damals Ausgestoßenen und Getöteten bewahrt hat und die Erinnerung an sie erhält. In der Verlegung der Steine setzen wir diese Erinnerung sichtbar um und machen sie damit zur realen Wirklichkeit, die man betrachten und anfassen kann. Bei solchen Stolpersteinverlegungen kommt mir immer der Gedanke: Lasst uns unser Grundgesetz noch mehr schätzen und schützen, in dem es heißt: Die Würde jedes Menschen ist unantastbar.“ Er bedankte sich dann auch bei dem anwesenden Bürgermeister der Stadt Lüdenscheid Sebastian Wagemeyer, den Besuchern und Unterstützern aus den Kirchen und ganz allgemein bei den vielen interessierten Bürgern der Stadt, die an der Verlegung teilnahmen. Es war beeindruckend, wie viele Menschen sich an diesem Tag auf dem Weg gemacht hatten, um den Steinen folgend, mit Hella Goldbach, Matthias Wagner und den „Freunden Israels“ durch die Stadt zu wandern.

 

Die Betroffenheit war groß und vielen anzusehen. Das waren keine Fremden, denen hier und jetzt gedacht wurde. Das waren Lüdenscheider. Ehemalige Nachbarn, Freunde, Mitschüler und Kollegen. Überhaupt, wie wäre es heute, wenn ohne jeden Grund der Gemüsehändler vom Markt, der Hausarzt oder die Lehrerin einfach abgeholt würden, um nie wieder zurückzukehren. Wie würden wir heute damit umgehen? Würden wir wieder dabei zusehen oder sie diesmal beschützen? Eine Frage, die von den Teilnehmenden der Stolperstein-Verlegung diskutiert wurde. Nicht jeder war sich sicher, ob man den Mut hätte, gegen ein faschistisches Regime aufzustehen. Alle waren sich hingegen einig: So weit darf es nie wieder kommen. Wir müssen wachsam sein. Nicht wegsehen. Und den Anfängen wehren. Die Erinnerung bewahren. Denn – wie Frau Goldbach so treffend sagte: „Wer nichts aus der Geschichte lernt, ist verdammt, sie immer und immer wieder zu wiederholen.“

 

Am Tag der Stolpersteinverlegung wurde einmal mehr ein Zeichen gesetzt: Gegen Antisemitismus. Für jüdisches Leben in Deutschland. Mein Wunsch: Nehmen wir jeden Juden, der den Mut hat, bei uns leben zu wollen als Freund auf. Mit offenen Armen und ohne Vorbehalte. Wir brauchen einander und gehören zusammen. Vielleicht in diesen unsicheren Zeiten mehr als je zuvor. ©ik

Stolpersteine in Lüdenscheid (Fotos: Iris Kannenberg)

  • Matthias Wagner (Gedenkzellen), Rosi Dicke (Freunde Israels) und Hella Goldbach (Christlich-Jüdischen Gesellschaft Lüdenscheid)

  • Bürgermeister der Stadt Lüdenscheid Sebastian Wagemeyer, Matthias Wagner (Gedenkzellen)

  • Hella Goldbach (Christlich-Jüdischen Gesellschaft Lüdenscheid) eröffnet die Verlegung der Stolpersteine an der Wilhelmstraße 58

  • Matthias Wagner (Gedenkzellen), eröffnet die Verlegung der Stolpersteine an der Wilhelmstraße 58

  • Die SchülerInnen des Zeppelingymnasiums Lüdenscheid hatten sich gut vorbereitet. Sie brachten den Zuhörern die Familien Moses und May sehr nah.

  • Beeindruckend, wie viele Menschen zur Stolpersteinverlegung gekommen waren

  • Der Bürgermeister hielt eine Rede, in der man seine eigene Betroffenheit spüren konnte

  • Birte Lindtstaedt spielte auf der Geige jüdische Lieder zum Thema

  • Bei Familie Noach

  • Schüler des Geschwister-Scholl-Gymnasiums erzählten aus dem Leben der Familie Noach

  • Schüler des Geschwister-Scholl-Gymnasiums erzählten aus dem Leben der Familie Noach. Sie hatten sogar ein Bild der Tochter der Familie dabei.

  • Stolpersteinverlegung

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